Der fleißige Traum

Über eine Castingshow zum Profivertrag

11freunde, Heft #85

Text: Lennart Laberenz

Jorge Flores hat seinen Vertrag in der Major League Soccer bei einer Casting-Show im Fernsehen gewonnen. Der ursprüngliche Marketing-Gag entwickelt sich aber unerwartet – der Junge ist auf dem besten Weg zum Star.
Der fleißige Traum



Sie rufen ihn tatsächlich »sueño« – Traum. Claudio Suárez, eine der Legenden des mexikanischen Fußballs, ruft gerade, denn er will den Ball im Zentrum haben, damit der Traum links steil gehen kann. Der ist pfeilschnell, er duckt sich immer ein wenig beim Sprinten, doch mit dem Flügelspiel ist das so eine Sache bei Chivas USA, über die Flügel geht nicht viel. Also kehrt der Traum wieder um, nach links hinten, und schabt ein bisschen an seinen grünen Fußballschuhen.

Außerhalb des Trainingsplatzes heißt »sueño« Jorge Flores. Er ist 19 Jahre alt, schießt mit links und ist eigentlich ein Stürmer, nun aber meist in der Abwehr beschäftigt. Flores’ Weg zum MLS-Klub Chivas USA ist eine Geschichte, die es so wohl nur in den Vereinigten Staaten von Amerika gibt. Vor allem aber passt sie zum Großraum Los Angeles.

2004 gründeten die Besitzer des mexikanischsten aller mexikanischen Fußballvereine, des Club Deportivo de Guadalajara (seit 1948 auch als Chivas, »die Ziegen«, bekannt), in Carson City einen Ableger für die amerikanische Profiliga. Die Idee dahinter war geschäftstüchtig: Fußball in den USA ist vor allem eine Sache der gebildeten weißen Mittelschicht, des geschützten Vorort-Amerikas. Bei vielen »richtigen Amerikanern«, also den Biertrinkern von der Football-Tribüne mit Hut und Stiefeln, ist das Spiel bis heute so beliebt wie dem Trocknen von Farbe beizuwohnen. Überdies ist es ein kleiner Teil des großen Kulturkrieges, der innerhalb der Gesellschaft tobt. Kicken ist elitär, seine Kinder in die Jugendmannschaften der Vereine zu schicken, kostet leicht 2500 Dollar im Jahr.

Die soziale Topografie des Fußballs ist eine andere geworden

»Wir wollten das anders machen«, sagt Dennis Te Kloese, Sportdirektor von Chivas USA. Offenkundig ist, dass die soziale Topografie des Fußballs mit den Zuwanderern eine andere geworden ist. Immer mehr Lateinamerikaner geben dem Sport auch in den verstreuten und kaum zusammenhängenden Vierteln von Los Angeles ein Zuhause. Nach offiziellen Zahlen sind etwa 26 Prozent aller Kalifornier nicht in den USA geboren, und unter den Einwanderern von Los Angeles stellen die Mexikaner mit 44 Prozent die stärkste Gruppe.

Dies trifft auch auf die zwölf Millionen illegalen Migranten zu, die nach konservativen Schätzungen in den USA leben. Allmählich löst der Fußball, in vielen lateinamerikanischen Ländern Nationalsport, Football und vor allem Baseball als Nummer Eins unter den Sportarten ab, wie die Statistiken der National Sporting Goods Association feststellen. Und selbst wenn sich der Lebensstandard der Mexikaner in Los Angeles nur marginal verbessert – einen Markt bilden sie dennoch.

»Uns geht es darum, mit diesem Verein eine Identität aufzubauen.« Dennis Te Kloese ist 36 Jahre alt, Niederländer und kommt aus der Ajax-Schule. Ihm geht es um eine Jugendarbeit, wie sie kein anderer professioneller Verein in den USA leistet. Wer seinen siebenjährigen Sohn bei Chivas USA unterbringen will, zahlt zwischen 800 und 1000 Dollar im Jahr, so wollen sie die Latinos einbinden.

Sportlich hat sich der Verein mittlerweile stabilisiert. Als zu Beginn nur Mexikaner hier spielten, war es das schlechteste Team der MLS-Historie. Mittlerweile stehen auch ein geflohener Kubaner, ein Argentinier, ein paar Brasilianer, ein Jamaikaner, ein Rumäne, der aus der Bundesliga bekannte Schweizer Raphael Wicky und etliche Amerikaner unter Vertrag. Eine Mannschaft in der MLS hat 18 Spieler und zehn Posten für sogenannte »development players«, die für 13.000 Dollar im Jahr spielen. Bei Chivas USA ist eines dieser Talente »sueño«, der Traum.

Bevor Jorge Flores zum Traum wurde, wuchs er – als Sohn mexikanischer Einwanderer in Anaheim bei L.A. geboren – bei seinen Großeltern in Pénjamo im mexikanischen Bundesstaat Guanajuato auf. Pénjamo liegt etwas mehr als eine halbe Stunde von Guadalajara entfernt. Etwa so lange braucht er heute zum Training, wenn der Verkehr einigermaßen fließt. Natürlich hat er zu den Chivas gehalten, als er mit 15 in die USA zurückkehrte, auch wenn er in Mexiko die Pumas aus der Hauptstadt verehrte.

Und dann kam die Sache mit dem Wettbewerb. »Ein Onkel hat mir davon erzählt, ich bin da einfach mal hingefahren.« Jorge Flores wirkt jünger als 19, mit seiner hellen Stimme und der schmalen Statur. Seine Füße sind, wenn sie mal nicht in Stutzen und Fußballstiefeln stecken, beinahe schneeweiß. Sie wirken fast ein wenig zerbrechlich. Flores fuhr also mit seinem Onkel zum Stadion. Er war zu spät, setzte sich und wartete, ob er überhaupt noch vorspielen durfte.

Das Fernsehcasting war eine Marketingidee der Liga

Die Liga sei auf diese Idee gekommen, sagt Te Kloese. Ein Fernsehcasting sollte veranstaltet werden, eine Show, bei der ein neues Talent gesucht und nachher in den Spielbetrieb eingebunden werden sollte. Die Liga denkt sich solche Sachen aus, weil das gut fürs Marketing und die Popularität ist. Aber weil man vielleicht auch an so etwas wie Identität dachte, wurde Chivas USA ausgewählt – der Klub, der noch nach Rückhalt in der spanischsprachigen Bevölkerung sucht.

»Sueño MLS« hieß die Sendung und sortierte aus 2000 Kandidaten die Besten aus. Jorge Flores durfte schließlich doch noch mitmachen, und er kam weiter, immer weiter. Es gab Trainingseinheiten unterschiedlicher Intensität, Spiele gegen das Jugendteam, Lehrgänge. Das alles zog sich über drei Monate hin, wöchentlich wurde eine Folge ausgestrahlt. Jorge war gut. Er war sogar so gut, dass er am Ende gewann.

Wenn der Traum über diese Dinge spricht, dann ohne große Emotionen. Er hat seine Geschichte oft erzählt, und übrig geblieben sind ein paar knappe Sätze ohne schmückendes Beiwerk. Es ist wie die berühmte Geschichte vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird, doch auf den Fotos vom Finale, wo sich Flores gegen die letzten vier Mitbewerber durchsetzte, ist zu sehen, dass er sich eher nach innen freut. Immerhin lächelt er tapfer.

Nach der Show begann die eigentliche Arbeit. Zwar hatte Jorge Flores schon in der High School in Anaheim und danach in der Coast Soccer League gespielt, doch an eine professionelle Fußballkarriere hatte er nie gedacht; eher schon an ein Architekturstudium. Der Traum hat sich nach der Sendung an die erste Mannschaft heran gearbeitet, über die U19 und das Reserveteam. In dieser Saison hat er bereits diverse Einsätze in der Liga bekommen und einen Stammplatz in der U20-Nationalelf der USA.

Dennoch spricht er nachdenklich und mit der Zurückhaltung eines Menschen, der in einfachen Verhältnissen sozialisiert ist. Sein Leben hat sich ganz schön verändert: Jorge hat plötzlich einen Fulltime-Job, er muss die Zeit mit den Freunden aus Anaheim reduzieren und das mexikanische Essen der Familie ist für ihn tabu. Am liebsten isst er Chilaquiles, ein Arbeiterfrühstück mit scharfer Soße, Eiern, Käse und Bohnen, den Rest des Sonntags kommt man damit kaum vom Sofa.

Der nächste Traum für den Traum: Europa

Der Traum erzählt von den Reisen, leider sehen sie oft nicht viel mehr als das Hotel und die Stadien. Gelegentlich blitzt die Freude des kleinen Jungen in seinem Gesicht auf, etwa wenn er vom ersten Tor in der Liga erzählt, gleich nach der Einwechslung bei seinem Debüt. Das war gegen die Metro Stars in New York. Mittlerweile hat Flores mit der amerikanischen U20 auf Turnieren in Irland, Portugal und England gespielt, auch hier hat er Tore geschossen.

Und da ist es wieder, das kurze Blitzen auf der hellen Gesichtshaut: »Europa kennen lernen! Das wollte ich schon immer.« Einmal ist sogar Cristiano Ronaldo aus seinem Auto gestiegen, um ein Foto mit ihm zu machen. »Jorge ist ein guter Junge«, sagt Dennis Te Kloese. »Er arbeitet ernsthaft und hat sich sehr verbessert.« Der Sportdirektor hat Flores unterstützt, ihn die ersten sechs Monate in die U19 gesteckt und ihm dann einen Vertrag als »development player« gegeben. Schnelle Linksfüße gibt es nicht allzu viele.

»Aber er hat noch viel vor sich, bei der Ballannahme muss er sich verbessern, die Taktik schulen«, meint Te Kloese. »Flanken«, wird ihm Claudio Suárez nach einem Spiel der Reserve sagen, »sueño, du musst an deinen Flanken arbeiten.« Wie schwer muss es für einen, der über eine Fernsehshow in ein Profiteam kam, wohl sein, akzeptiert zu werden? Doch der Traum hat es geschafft.

Beim Match der Ersten gegen die Kansas City Wizards sitzt Flores dann ganz rechts auf der Bank. Die Partie ist knifflig – beide Mannschaften müssen gewinnen, um ihre Chance auf die Playoffs zu wahren. Nach der Hymne Mexikos beginnen die Mannschaften nervös, alles drängt in die Mitte. Alecko Eskandarian und Sacha Kljestan schießen die Chivas in der ersten Halbzeit in Führung, nach der Pause holen die Wizards auf und erzielen gar den vermeintlichen Ausgleich, den aber der Schiedsrichter wieder zurückpfeift. Die Arena ist nicht mal zur Hälfte gefüllt, der Traum wird nicht eingewechselt.

»Das Finale findet in diesem Jahr in unserem Stadion statt«, sagt Jorge Flores am nächsten Tag. »Wer weiß, mit der Unterstützung unserer Fans können wir vielleicht für eine Überraschung sorgen.« Es ist Sonntag, die Sonne scheint, und im nahen Pearsons Park in Anaheim treffen sich viele mexikanische Familien. Sie flanieren, küssen sich in der Sonne, essen Eis auf bunten Decken. Hier hat Jorge nach der Schule häufig gespielt. Mitten im Park steht ein Baseball Stadion mit dunklen Tribünen. Auf der Höhe der First Base ist heute ein Fußballtor aufgebaut, die verblasste Kreidelinie des Baseballfeldes läuft geradewegs durch die Pfosten. Es sieht aus, als würden die Markierungen miteinander ringen. Gleich wird der Schiedsrichter ein Spiel anpfeifen.